Tun oder Nichttun – Zwei Formen des Handelns

Die Convoco! Edition ist eine jährlich erscheinende Buchreihe, die Beiträge der Denkerinnen und Denker zu Convocos Jahresthemen zusammenträgt. Die Edition wird sowohl in deutscher als auch englischer Sprache veröffentlicht.

Tun oder Nichttun – Zwei Formen des Handelns

Reihe: Convoco! Edition

Herausgegeben von Corinne Michaela Flick

Beitragende: Bazon Brock, Gert-Rudolf Flick, Elke Holinski-Feder, Peter M. Huber, Kai A. Konrad, Stefan Korioth, Rudolf Mellinghoff, Friedhelm Mennekes, Hans Ulrich Obrist und Marina Abramović, Christoph G. Paulus, Jörg Rocholl, Wolfgang Schön, Roger Scruton, Pirmin Stekeler-Weithofer

Seiten: 202

ISBN 978-3-8353-1641-6

Preis gebundenes Buch: €14.90 (D) . €15.40 (A)

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Preis EPUB: €11.99

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Bewusstes Unterlassen als Handeln steht im Mittelpunkt dieses Bandes. Nichttun ist nicht nur eine Alternative zum Tun, sondern in Zeiten, in denen es gilt, sich durch Aktivität auszuzeichnen- vielleicht die anspruchsvollere Form des Handelns. Denn es bedarf mehr an Energie und Stärke, etwas zu unterlassen, als es zu tun, wenn beide Formen des Handelns möglich sind. Was oft übersehen wird ist, dass Agieren nicht unbedingt mit effizientem, langfristigem Handeln gleichgesetzt werden kann. Um langfristige Ziele zu erreichen, ist es oft erforderlich Naheliegendes zu unterlassen. Es ist nicht leicht, überlegt zwischen Tun oder Nichttun zu entscheiden. Man muss sich einer Sache sehr sicher sein, damit man sich für das Nichttun entschlieβt. Ein Unterlassen zu rechtfertigen, ist oft schwieriger, als ein Tun zu begründen.

Durch Unterlassen schaffen wir uns wichtige Frei- und Denkräume. So erkennt man oft erst aus dem bewussten Nichttun – aus der sich hieraus ergebenden Stille, was wirklich wesentlich ist. Beim Unterlassen geht es auch um die Verantwortung für die Wirkung des eigenen Tuns. Es gilt, die negativen Auswirkungen des Handelns und Verbrauchens möglichst gering zu halten. Unterlassen sollte die gesellschaftliche Vorgabe für das Maβ und Ziel des Handelns sein. Die Autoren der Convoco Edition beleuchten die Frage »Tun oder Nichttun?« aus unterschiedlichen Perspektiven und in Hinblick auf verschiedene Fragestellungen.

Thesen

Gerade heute ist das Ausüben von Unterlassen Ausdruck von Freiheit. In Freiheit ist ein Heraustreten immer möglich. Heraustreten durch bewusstes, intendiertes Nichttun. Man muss nur von seiner Freiheit Gebrauch machen und das unterlassen, was man nicht für richtig hält.

Corinne M. Flick

Unterlassen kann sich darstellen als Ausdruck einer Konzentration auf die maßgeblichen Werte des eigenen Lebens und als Zeichen einer Haltung, die von dem gleichen Respekt vor dem anderen und seinen Lebensentscheidungen zeugt. Doch Unterlassen kann auch mangelnde Bewegungsfähigkeit und Willensschwäche nach innen und Gleichgültigkeit oder repressive Toleranz nach außen belegen. Staatliches Unterlassen mag als grober Verstoß gegen öffentliche Schutzpflichten oder als noble Zurückhaltung gegenüber dem Eigenstand von Wirtschaft und Gesellschaft aufgenommen werden. Und staatliche Aktivität wird von dem einen als paternalistische Zwangsbeglückung verurteilt, vom anderen als Ausdruck selbstverständlicher gesellschaftlicher Solidarität gefordert. Die Wahrheit bleibt – um es mit Brecht zu sagen – doch immer das Konkrete.

Wolfgang Schön

Eine zentrale Art und Weise, wie Menschen auf das Handeln verzichten können, ohne damit ihrer Verantwortung zu entsagen, ist durch die Mitgliedschaft in einer Institution, die auf Vertrauen gründet, und die Identifikation mit ihr. Institutionen haben zwei Tugenden, an denen es Individuen mangelt: Sie verbinden einen langfristigen Zweck generell mit einem Verständnis von Gemeinwohl (common good), und sie können aus den Erfahrungen vieler, auch derer, die verstorben sind und nur ihr Wissen hinterlassen haben, lernen und diese verkörpern.

Roger Scruton

Wie kann man das Nichtgeschehen als Zielpunkt historischen Handelns zu einem historischen Ereignis werden lassen? Wie lässt sich die Ereignishaftigkeit des Nichtgeschehenen im Vergleich zur Ereignishaftigkeit des Geschehenen darstellen? Die Darstellungsproblematik des Nichtgeschehenen führt zur philosophischen Überlegung, dass nicht nicht nichts ist.

Bazon Brock

Handeln und Unterlassen liegen oftmals nahe beieinander; das eine kann sich hinter dem anderen verbergen. Insbesondere in der Politik kann damit Tatkräftigkeit suggeriert werden, wo in Wahrheit ein Nichtstun vorliegt. Vorzugswürdig ist demgegenüber, ein bewusstes Nichttun dazu zu nutzen, um die wesentlichen Handlungen zu erkennen und vorzunehmen.

Christoph G. Paulus

Die frühere Grundhaltung, wonach aktives Handeln mit zukunftsgerichteter Rechtsetzung Voraussetzung eines möglichen Fortschritts ist, gilt so nicht mehr. Die Alternative des Problemlösens durch Geschehenlassen, obwohl gehandelt werden könnte, wird attraktiv.

Stefan Korioth

Das Bundesverfassungsgericht könnte einen wirkungsvollen Beitrag zur besseren Akzeptanz von legislativem und administrativem Unterlassen leisten, wenn es sich stärker der Figur des additiven oder kumulativen Grundrechtseingriffs annähme. Es gäbe dann einen handhabbaren Maßstab für unterschiedliche Belastungen, die dem Bürger durch einen oder mehrere Normgeber auferlegt werden. Es käme das Ganze in den Blick, möglicherweise mit der Folge, dass das Unterlassen weiterer Belastungen nicht nur die anspruchsvollste, sondern die einzig akzeptable Form des Handelns ist.

Peter M. Huber

In den Fällen, in denen der Einzelne persönlichkeitsgefährdende Maßnahmen, Handlungen oder Eingriffe nicht von sich aus unterlässt und der Staat nicht auf überschießende Eingriffsmaßnahmen verzichtet, ist der Rechtsstaat auch zum vorbeugenden Schutz verpflichtet. Daher ist es notwendig, dass Unterlassungs- und Folgenbeseitigungsansprüche im Recht verankert werden. Nur derartige Ansprüche stellen neben den Schadensersatzansprüchen sicher, dass es nicht bei dem allgemein moralischen Appell verbleibt, ein Handeln zu unterlassen, sondern das Unterlassen rechtlich durchgesetzt werden kann.

Rudolf Mellinghoff

In der Medizin sollte der Gesetzgeber einen Rahmen schaffen, in dem der Arzt, in Abhängigkeit von der individuellen Situation, einen gewissen Handlungsspielraum für Entscheidungen hat, in dem aber auch die Delegation der Entscheidungsverantwortung an den Arzt mit der Möglichkeit eines institutionalisierten Diskurses möglich ist. Die Vorgabe eines Normenkataloges ist hier nicht hilfreich. Es gilt ggf. durch Unterlassen zu Regelungen zu gelangen, die sich an den positiven Zielen der Medizin orientieren, wertfrei sind und ärztlichem Handeln Raum lassen. Nur so wird es möglich sein, die Würde aller Menschen innerhalb ethischer Grenzen, die wir aus einem abendländisch-humanistischen Weltbild her setzen, zu schützen, die der Ungeborenen und vor allem auch die der Lebenden.

Elke Holinski-Feder

Wenn versucht wird, die Erwartungen an die Corporate Social Responsiblity immer weiter zu verfeinern und zu konkretisieren, dann könnte der Glaube entstehen, es sei alles erlaubt, was nicht explizit verboten ist. Daraus könnte eine unnötige Bürokratie entstehen, die sich in der Veröffentlichung umfangreicher Unternehmensberichte über die eigenen Tätigkeiten im Bereich der Corporate Social Responsibility wie auch im „Abhaken von Kästchen“ äußern würde und die Form über den Inhalt stellte. Solche Auswüchse hätten nichts mehr mit Verbesserungen zu tun, sondern führten lediglich zur besseren Normerfüllung auf dem Papier.

Jörg Rocholl

Auf globaler Ebene entfaltet wirtschaftliche Dynamik einen bedeutenden Nebeneffekt. Nur eine technologisch fortschrittliche, gut ausgebildete und möglichst wohlhabende Menschheit kann auf Katastrophen und veränderte Lebensbedingungen hinreichend flexibel reagieren.

Kai A. Konrad

Das Unterlassen ist zwar nicht immer und schon gar nicht im wörtlichen Sinne des bloßen Nichtstuns besser als das Tun. Es ist aber, erstens, angesichts vielfältiger Widerfahrnisse der Rahmen des Handelns. Die Begrenztheiten unseres Könnens gehören sogar zu den apriorischen Voraussetzungen, den so genannten transzendentalen Hintergrundbedingungen, jedes Tuns. In Fällen, in denen gewisse typische Reaktionen oder Aktionen naheliegen, die gerade nicht zum erwünschten Ziel führen, ist es zweitens oft sehr schwierig, der Versuchung zu widerstehen, handelnd oder auch nur redend zu intervenieren und stattdessen den Dingen ihren Lauf zu lassen, sie also nicht in illusionärer Weise einem eigenen Willen zu unterwerfen und unter der eigenen Kontrolle halten zu wollen. Die rechte Haltung zum Nichthandelnkönnen ist daher oft weit besser und anspruchsvoller als bloß gut gemeinte Aktionen.

Pirmin Stekeler-Weithofer

In der bildenden Kunst ist es so, dass der totale Einsatz aller bildnerischen Mittel am Ende zu einem nicht ganz befriedigenden Resultat führt. Einige dieser Mittel müssen daher unterlassen werden, damit das Kunstwerk seine Mystik behält. Wir können so auf dem Gebiet der bildenden Kunst geradezu von einem Gebot des Unterlassens sprechen, dem Gebot, nicht alle vorhandenen Mittel zum Einsatz zu bringen. Große Künstler haben es immer verstanden, hier die richtige Balance zu finden.

Gert-Rudolf Flick

Im Schweigen taucht der Mensch in seinen Grund ein und sucht Stand im „ewigen Jetzt“. Der leere, sakrale Raum gewährt hier – mitten in derart gefüllter Zeit – Einkehr und Halt. Und er legt den Weg aus, indem sich die Frage als Sein entfaltet. Es ist die Frage als Frage. Auch sie gehört wie das Schweigen fundamental zum menschlichen Sein selbst. Nur wenn der Mensch sich selber fraglich wird, wenn er in sich hineinblickt und sich von sich selbst erlöst, kann er sich verstehen: an seinem Ort in Raum und Zeit, in der Frage nach sich selbst und in der nach seiner Freiheit. In so verstandenen Räumen lassen sich frei neue Einstellungen und ihre inneren Gebote erringen, auch das Einüben eines im Detail gebotenen Unterlassens.

Friedhelm Mennekes SJ

I see the silence as an extremely important condition of everything because I think that it is some extension of any decision that you have to take. When you come into the museum you have to put your watch and computer and your phones in the lockers. Then the next thing is that you are actually cut off from communication, cut off from time and the next thing is you are actually cut off from noise. So when you enter the silence in the space and you put this extra silence in your ears you automatically are in a different space, in a different zone. You are in a kind of parallel reality and that really helps people to focus.

Marina Abramović

Autor:innen

Tun oder Nichttun – Zwei Formen des Handelns

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