Globaler Süden

Die Bedeutung des Globalen Südens wächst. Warum ist es so schwer, seine Staaten für den Westen zu gewinnen?

Ohne das Lager des Globalen Südens ist eine internationale Ordnung nach den Vorstellungen des Westens nicht möglich. Spätestens durch den Krieg in der Ukraine ist der Globale Süden zur politisch kritischen und umworbenen Größe geworden. Schlüsselstaaten wie Indien, Brasilien, Südafrika oder die Golfmonarchien pochen auf ihre Unabhängigkeit. China versucht alles, um die BRICS gegen die USA in Stellung zu bringen.  Es hat den Anschein, als ob der russische Krieg gegen die Ukraine in Teilen des Globalen Südens als Katalysator wirkt, sich gegen die westliche „Hegemonie“ zu positionieren.Nun kommt es durch den Krieg in Gaza zu einer Verschärfung der Positionen zwischen dem „Westen“ und dem „Süden“. Der Globale Süden ist politisch – nicht nur humanitär – eindeutig pro-palästinensisch. Traditionell gibt es eine israel-feindliche Haltung vieler dieser Länder. Darin liegt der Unterschied zu Europa.

Das Problem: Mehr und mehr Staaten des Globalen Südens misstrauen dem Westen. Ein Blick zurück macht deutlich, warum:

I. Der Westen ist unglaubwürdig

Während innerhalb des europäischen Kontinents Toleranz, Freiheit und Gerechtigkeit die Maxime waren, existierte zeitgleich der europäische Imperialismus und Kolonialismus, also Unterdrückung, Sklaverei und Ablehnung des Anderen.

Die Fortsetzung von Kolonialregimes über 1918 hinaus trug erheblich zum Glaubwürdigkeitsdefizit des »Westens« bei – und in vielen Regionen der Welt wirkt dies bis in die Gegenwart weiter. So blieb in der Sphäre der internationalen Politik ein Kennzeichen bestimmend: Ein spannungsreiches Verhältnis zwischen Gleichheitsversprechen und Ungleichheitserfahrungen, das wesentlich über die Glaubwürdigkeit von Regeln, Regimes und Akteuren entschied – und bis heute entscheidet. (Edition 2023)

Fallbeispiel: Haiti

Jörn Leonhard: Im Sommer 1791 hatten Angehörige der Pflanzer-Elite und der Sklaven auf die Revolution in Frankreich und ihre Gleichheitsversprechen reagiert. Die Ereignisse in der Karibik forcierten die Abschaffung der Sklaverei in Frankreich im Februar 1794. Ihre Wiedereinführung unter Napoleon provozierte erneute Aufstände. Erst nach einem blutigen Bürgerkrieg und der Abwehr weiterer britischer und französischer Eingriffsversuche errang Haiti 1804 die Unabhängigkeit.” (Edition 2023)

Warum ist Haiti heute im Vergleich zu seinen Nachbarn wie Kuba, Jamaika oder der Dominikanischen Republik so arm? Nach Haitis erfolgreichem Sklavenaufstand verlangte Frankreich eine Zahlung von 150 Mio. Francs. Es wird geschätzt, dass diese Reparationszahlungen Haiti in den folgenden anderthalb Jahrhunderten Milliarden an Dollar gekostet und die wirtschaftliche Entwicklung Haitis stark beeinträchtigt haben. Haiti entwickelte sich so vom reichsten Land Amerikas zum ärmsten.

Pakistan – India’s twin – chose the path of dictatorship. India chose the path of democracy. Guess who was supported [by the West] during the Cold War? India, a non-aligned nation, was largely forgotten, but Pakistan was put at the forefront. As an Indian, you then ask yourself: “Seriously?” … That’s the hypocrisy in terms of political liberalism.” (Forum 2023)

II. Die gescheiterte Emanzipation

Der Prozess internationaler Emanzipation, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begann, endete für viele der ehemaligen Kolonien mit bitterer Enttäuschung. 

Zur Zeit der industriellen Revolution hatten koloniale Machthaber jeglichem Technologietransfer nicht nur einen Riegel vorgeschoben, die Schaffung eigener industrieller Strukturen war in den Kolonien de facto verboten, eine Industrialisierung ausdrücklich unerwünscht. Der Transfer technologischer Kompetenzen wurde daher zur zentralen Forderung von Entwicklungsländern.

Mit dem TRIPS-Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums werden Technologietransfers durch einen massiven Schutz von Patenten zusätzlich erschwert. Die Entwicklungsländer mussten TRIPS akzeptieren, um ihren Erzeugnissen einen zumindest begrenzten Zugang zu den Weltmärkten zu verschaffen. Im Prinzip galt: Den Entwicklungsländern wurden vorab erhebliche Zugeständnisse abverlangt, für die sie im Gegenzug kaum Vorteile bekamen.

Unsere krisengeschüttelten internationalen Organisationen zeigen sich nicht im Stande, auch nur annähernd einheitliche Wettbewerbsbedingungen für alle Nationen zu schaffen. (Edition 2023)

Die vom Recht mittels der Souveränität geschaffene und postulierte Gleichheit der Staaten schlägt sich zwar in so etwas wie dem Stimmrecht bei UNO-Abstimmungen nieder, nicht aber in der Realität alltäglicher (Geo-)Politik. Dort herrscht geradezu eine krasse Ungleichheit. (Edition 2023)

III. Westliche Überheblichkeit

Wir dachten mit dem Zusammenbruch des Ostblocks ist die Geschichte an ihr Ende gelangt und die Demokratie ist, was alle Menschen wollen. Dementsprechend musste man nicht mehr auf Widerstände Rücksicht nehmen, sondern man konnte Institutionen, Normen und Regeln immer weiter in diese Richtung ausbauen. Das ist Arroganz. Auch wenn wir theoretisch begründen können, warum bestimmte Normen und Regeln tatsächlich universal sein sollten, können wir sie nicht politisch umsetzen, solange wir das nicht ausgehandelt und empirisch erprobt haben.

Wer glaubt, dass es keine legitimen Widerstände gibt, der handelt entsprechend. Der Westen sieht nicht die eigene strittige Umsetzung von Menschenrechten – man denke nur an Abu Ghraib, Guantanamo Bay etc … Dass sich heute so viele Länder des Globalen Südens im Konflikt um die Ukraine nicht auf die Seite des Westens schlagen wollen, liegt genau daran. Wir haben diesen Ländern 30 Jahre lang erzählt: „Ihr müsst Demokratie und Menschenrechte umsetzen, sonst wird interveniert. Wenn wir uns danebenbenehmen, hat das euch aber nichts anzugehen.“ Die Quittung dafür bekommen wir jetzt auf den Tisch gelegt. (C! Podcast)

We’ve got to open up more to the concerns of the Global South. We have to stop to some extent imposing our western templates on these countries if we want them to be part of our common order. We need to move away from our sometimes eurocentric world view. (Forum 2023)

Europa sollte seine Interessen und Werte transparent und sachlich vertreten. Die Herausforderung ist, dabei nicht herablassend oder moralisierend zu wirken. (C! Gespräche 2023)

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