Convoco sprach mit Prof. Dr. Kai A. Konrad, Direktor am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und öffentliche Finanzen sowie Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen, über:
Politik unter Handlungsdruck
"Die Politik will Handlungsfähigkeit demonstrieren und greift nach diesen Lösungen wie der Ertrinkende nach einem Strohhalm."
Convoco: In vielen Teilen der Welt haben die Regierungen im Rahmen der Corona-Krise mit einem Lockdown den Menschen und der Wirtschaft viel zugemutet. Wie stehen Sie dazu?
Kai A. Konrad Aus humanitärer Perspektive ist es zunächst verständlich, dass die Politik auf die Horrorszenarien einer gefährlichen Pandemie so reagiert hat. Abermillionen Erkrankte allein in Deutschland und Zigtausende von Menschen, die nicht adäquat medizinisch versorgt werden können und deshalb sterben müssten: das ist eine schreckliche Vision. Und für einen Menschen, der sich in die Gedankenwelt eines Politikers mit Entscheidungsverantwortung versetzen kann, wird so auch die Alternativlosigkeit der Entscheidung verständlich. Kein Politiker möchte für solche Ereignisse direkt und persönlich Verantwortung tragen, zumal in einer Welt mit unserer medialen Öffentlichkeit.
C: Das klingt ein wenig, als gäbe es auch ein „Aber“, das Sie noch nicht deutlich gemacht haben.
KK: Ja, in der Tat. Die Kosten für Wirtschaft und Gesellschaft sind gewaltig und die wahren Ausmaße werden erst allmählich deutlich. Die Stilllegung, ja möglicherweise dauerhafte Zerstörung einer hochkomplexen, international arbeitsteiligen Struktur der Produktion von Gütern und Waren ist ein einzigartiger Vorgang. Und es geht nicht nur um Wirtschaft. Bildungspolitiker beklagen die langfristigen Folgen der Schließung von Schulen und Kindergärten, die erst in vielen Jahren messbar sein werden. In einer Studie unseres Instituts berichten sieben Prozent der zum Höhepunkt des Lockdowns Befragten davon, dass häusliche Gewalt in ihrem Haushalt oder in ihrer näheren Umgebung ein Problem sei. Sieben Prozent sind bei etwa 40 Millionen Haushalten eine gewaltige Zahl. Der Lockdown hat vor allem Frauen, Selbständigen, Unternehmern und Personen, die ihren Arbeitsplatz unmittelbar bedroht sehen, in sehr schwierige, ja, vielleicht existenzbedrohende Lebenslagen gebracht.
"Es war keine Abwägung zwischen Leben retten auf der einen Seite und Spaß und Annehmlichkeiten auf der anderen. Es war eine Abwägung zwischen der Rettung von Leben der einen Gruppe und der Rettung von Leben der anderen Gruppe. Der Lockdown wird ganz konkret Leben kosten."
C: Kann man die Corona-Todesfälle mit sozialen Unbequemlichkeiten, Verlusten an Bildungsqualität oder wirtschaftlichen Einbußen aufrechnen? Sind das wirklich vergleichbare Kategorien?
KK: Es war keine Abwägung zwischen Leben retten auf der einen Seite und Spaß und Annehmlichkeiten auf der anderen. Es war eine Abwägung zwischen der Rettung von Leben der einen Gruppe und der Rettung von Leben der anderen Gruppe. Der Lockdown wird ganz konkret Leben kosten. Er treibt vereinsamte Bewohner in Altersheimen und ihre Angehörigen an den Rand der Verzweiflung. Medizinisch notwendige Eingriffe wurden verschoben, um Notbettenkapazitäten für Corona-Patienten zu schaffen. Und zweifelsfrei führen die gewaltigen Einbußen an Wirtschaftskraft zu einem Verlust von Chancen. Eine künftig ärmere Gesellschaft hat weniger Geld für den Bildungssektor, den Gesundheitssektor oder nützliche und lebensrettende Innovationen. In Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen ist eben typischerweise auch die Lebenserwartung höher. Die psychosozialen Folgen des Existenzverlusts von Selbständigen oder des Arbeitsplatzverlusts lohnabhängig Beschäftigter haben ebenfalls Auswirkungen auf Gesundheit und Lebenserwartung.
C: Hätten Sie als Politiker anders gehandelt?
KK: Als Politiker kann man sich bestimmte Fehler nicht erlauben, sonst ist die Karriere zu Ende. Dazu gehören Entscheidungen, deren extrem negative Konsequenzen persönlich und unmittelbar zugeordnet werden können und die hohe mediale Aufmerksamkeit erzielen. Der Politiker entscheidet zwischen medial sichtbaren menschlichen Tragödien heute mit direkt zuzuordnender Verantwortlichkeit und einer deutlich größeren Anzahl von heute noch nicht sichtbaren Tragödien, die einen noch viel diffuseren Kreis von Personen treffen. Das kleine ABC der Politik gibt dem karrierebewussten Politiker in solchen Situationen eine klare Handlungsempfehlung.
C: Sie sagen letztlich, es liege in der Natur der Sache, dass Politiker hier massive Fehlanreize haben. Ist das nicht eine etwas zynische Sichtweise der Dinge?
KK: Sicher gibt es Ausnahmen von der Regel, und die Geschichte hat eine Reihe von Politikern, die sich an bestimmten Punkten ihres Lebens gegen Karriere und für eine bessere Politik entschieden haben. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass diese Personen nicht lange in bedeutenden Positionen mit politischem Einfluss bleiben. Es sind einfach die Spielregeln der Politik. Den Politikern kann man zugute halten, dass sie diese Spielregeln nicht selbst gemacht haben.
"Wirtschaftskrisen lösen bei vielen Wirtschaftspolitikern reflexartig Vorschläge für große Ausgabenprogramme aus. Das hängt damit zusammen, dass die meisten Krisen Nachfragekrisen sind [...] Die jetzige Krise ist anders."
C: Die Lockdown-Entscheidung ist Geschichte. Blicken wir nach vorn. Von selbst wird unsere Wirtschaft nur schwer wieder in Schwung kommen. Was denken Sie?
KK: Wirtschaftskrisen lösen bei vielen Wirtschaftspolitikern reflexartig Vorschläge für große Ausgabenprogramme aus. Das hängt damit zusammen, dass die meisten Krisen Nachfragekrisen sind: übergroße Produktionskapazitäten treffen auf einen Käuferstreik, den es durch Konjunkturprogramme zu überwinden gilt. Die jetzige Krise ist anders. Sie begann damit, dass nicht produziert werden konnte oder durfte. Nach dem Abbau der Produktionsverbote könnte es eigentlich wieder losgehen. Die Weichen nach einem Lockdown stehen insofern eher auf wirtschaftliche Aufholdynamik, ähnlich wie man sie nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland erlebt hat.
C: In der Krise werden Stimmen laut, die sich eine stärkere Rolle des Staates wünschen, um die Versorgungssicherheit für gewisse Güter zu garantieren. Ist dies die richtige Schlussfolgerung? Die EU Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel haben erklärt, die EU müsse künftig kritische Güter in der Union produzieren und Abhängigkeiten von Drittstaaten verringern. Im Gegensatz dazu argumentiert Phil Hogan, EU Kommissar für Handel, dass nicht Selbstversorgung, sondern mehr Freihandelsabkommen und diversifiziertere Lieferketten das Ziel sein sollten. Ist mehr Regionalität die richtige Antwort auf die Krise?
KK: Die Produktion von Gütern basiert heute in nie dagewesenem Ausmaß auf internationaler Arbeitsteilung. Diese Arbeitsteilung ist wunderbar und war die entscheidende Quelle eines hervorragenden Lebensstandards und Wohlstands in vielen Ländern in den letzten Jahrzehnten. Arbeitsteilung macht aber die Produktion auch anfälliger für Schocks, weil sie sehr viele gegenseitige Abhängigkeiten in den Lieferketten zwischen Produktionsstandorten schafft. Diese führen beispielsweise dazu, dass die optimale Krisenpolitik eines Landes davon abhängt, welche regulativen Maßnahmen in den anderen Ländern getroffen werden. International zeitlich koordiniertes Handeln ist deshalb erforderlich. Offene Grenzen für Warenströme sind eine Voraussetzung. Länder, die diese Prozesse verschlafen, werden das Nachsehen haben, weil ihre Unternehmen „abgekoppelt“ werden und der globale Produktionsprozess Ersatzlösungen suchen wird.
"Große Krisen führen zur Mobilmachung unter den Krisenopportunisten. In der Krise fordern Wähler Lösungen. Da schlägt die Stunde der Interessengruppen."
C: Wie wird sich unsere Gesellschaft durch die Krise verändern? Was ist Ihre größte Befürchtung?
KK: Große Krisen führen zur Mobilmachung unter den Krisenopportunisten. In der Krise fordern Wähler Lösungen. Da schlägt die Stunde der Interessengruppen. Sie bieten vermeintliche Lösungen an, die in erster Linie ihrer Interessengruppe dienen und für die Krise selbst gar nicht taugen. Die Politik will Handlungsfähigkeit demonstrieren und greift nach diesen Lösungen wie der Ertrinkende nach einem Strohhalm. Das sind gefährliche Entwicklungen. Marcel Thum und ich haben dieses Prinzip kürzlich einmal an einigen Beispielen von Vorschlägen durchdekliniert, die mit einer zielführenden Krisenpolitik nichts zu tun haben. Da gibt es Forderungen der Globalisierungsgegner nach lokaler Produktion und nationalstaatlicher Autarkie. Da gibt es Gruppen, die sich mehr staatliche Eingriffe auf dem Arbeitsmarkt, Teilverstaatlichung von Unternehmen oder eine stärkere Gängelung der Güterproduktion durch den Staat wünschen. Umweltaktivisten können sich einen Neustart nur als ökologische Erneuerung vorstellen. Und italienischen und französischen Finanzpolitiker erneuern ihre bekannten Wünsche für eine vergemeinschaftete Schuldenpolitik in Europa.
C: Was ist ihre größte Hoffnung?
KK: Ich bin Optimist. Den Blick auf die Menschheitsgeschichte lese ich als eine beispiellose Erfolgsgeschichte, wie sie Steven Pinker in seinem Buch „Aufklärung jetzt“ beschreibt und entlang vieler Dimensionen belegt. Ob diese Prosperität in Europa wieder einkehrt oder sich in andere Regionen der Welt verlagert, liegt in unseren Händen. Grundlagen dafür sind die Bereitschaft des Einzelnen, Risiken einzugehen und zu tragen und ein Wirtschaftsregime mit persönlicher und wirtschaftlicher Entfaltungsfreiheit. Die Krise hat uns gelehrt, dass persönliche Freiheiten, etwa sich frei zu bewegen, sich mit anderen zu versammeln, politische Freiheiten und wirtschaftliche Freiheiten keine Selbstverständlichkeiten sind, und dass man diese Freiheiten nur haben kann, wenn man im Gegenzug bereit ist, individuelle Lebensrisiken zu tragen und zu ertragen. Vielleicht kann die Krise so zu einer Renaissance dieser Werte führen.
Prof. Dr. Kai A. Konrad ist Direktor am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und öffentliche Finanzen sowie Wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft. Von 1994 bis 2009 war er Universitätsprofessor im Fachbereich Wirtschaftswissenschaft an der Freien Universität Berlin und von 2001 bis 2009 Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Er ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften – Leopoldina und vier weiterer wissenschaftlicher Akademien. Von 2007 bis 2018 war er Co-Editor des »Journal of Public Economics«. Seit 1999 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen und war dessen Vorsitzender von 2011 bis 2014.