Wann hat für Sie persönlich das 21. Jahrhundert begonnen?

Sie haben es wahrscheinlich schon bemerkt – seit Beginn des Jahres stellen wir unseren Gästen im Convoco Podcast am Ende die Frage:

Wann hat für Sie persönlich das 21. Jahrhundert begonnen?

Dass die Welt des 21. Jh. sich grundlegend von der des 20. Jh. unterscheidet, darin sind sich viele einig. Doch mit welchem Moment wurden diese Veränderungen offensichtlich? Mit dem Ende des Kalten Kriegs? Mit den Terroranschläge des 11. Septembers? Mit der Finanzkrise oder vielleicht die Pandemie? Die Gäste des Convoco Podcast teilen ihre jeweils ganz persönliche Perspektive mit uns.

Für mich hat das 21. Jahrhundert in den frühen 90er Jahren begonnen, als ich Zeitzeuge geworden bin der kriegerischen Auseinandersetzungen in Kroatien und Bosnien, also in Ex-Jugoslawien. Da ist mir klar geworden, dass mit dem Ende des Kalten Krieges ein neues Zeitalter beginnt, und dass nationalistische Auseinandersetzungen und der Zerfall von Staaten zu einem wichtigen Thema werden würden. Mir war nicht klar, dass der Nationalismus und die nationale Identität über fast 30 Jahre hinweg so eine schreckliche Karriere machen würde. Der Einstieg ins 21. Jahrhundert war für mich also diese Erfahrung des Krieges mitten in Europa, mit der mir noch einmal deutlich geworden ist, wie dünn der zivilisatorische Film ist.

Ottmar Edenhofer ist Direktor am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.

Emily Haber: Das 21. Jahrhundert hat für mich letztlich mit dem Fall der Mauer begonnen, weil der Fall der Mauer oder die Implosion des Ost-West-Gegensatzes die Tür geöffnet hat für die Entwicklung einer völlig neuen Welt. Und diese tektonischen Verschiebungen dauern an. Sie begannen mit der unilateralen Vormacht der einzigen Supermacht USA, und sie durchlaufen jetzt eine Phase, in der sich die Gewichte – und die Bedeutung der Regelwerke im Übrigen – neu ausbalancieren.

Emily Haber war 2018-2023 Deutsche Botschafterin in den USA.

I think we fell into the 21st century quite abruptly on September 11th , 2001. I was in my first job as an assistant professor at Yale University in New Haven. New Haven is pretty close to New York, so there is a personal dimension to what happened on 9/11. But it was also quickly clear, that the status quo that we had reached in the world at the end of the 20th century wouldn’t be lasting.
The world was dominated by the United States, the last standing superpower after the collapse of the Soviet Union. China was a far cry from what it is today. American exceptionalism – the idea that the US was a special nation with obligations towards global politics and people around the world – was a big idea around 2000. But on September 11, 2001 we saw resistance to this Pax Americana. We saw resistance striking the remaining superpower in the heart of its operations. And then, of course, we saw the terrible reactions to it, the horrible leadership failures on the side of the US. It was clear in late 2001 that a new chapter in the world had started. And I think that is very much the world that we still live in.

Mathias Risse ist Direktor des Carr Center for Human Rights Policy an der Harvard Kennedy School.

It began on September 10th, 2001. My wife, Sandra, and I were at that point co-masters of Mather House, one of the residential houses at Harvard. We had about 400 students living in and around us nine months of the year.  We routinely took our rising sophomores, the second-year students, on an excursion at the beginning of their first year in the house. We did that in 2001 on September 10th. We went to a resort area outside of Boston. It was a perfect New England day. Sunny, a little cool, everyone had a terrific time. I really had the sense that we were beginning to forge a new community with people who would ideally think back on their time with us as a great time. That was September 10th. September 11th , of course, looked very different. This juxtaposition summarizes where we are in this century so far. I say that with some regret, but at the same time with some hope, because we did have that day. I remember it and I would like to believe others do too.

Leigh Hafrey ist Senior Lecturer for Communication and Ethics an der MIT Sloan School of Management

Das 21. Jahrhundert hat für mich tatsächlich am 1. Januar 2000 begonnen, denn ich saß in Brasilien fest. Es erinnert sich kaum noch jemand, dass damals die Angst umging, dass es nicht sicher ist, zu dieser Zeit zu fliegen, weil vielleicht die Computer nicht funktionieren. Ich war auf der Rückreise einer Tiefsee-Expedition von Uruguay und alle Flieger sind am Boden geblieben. Und weil ich kein Visum für Brasilien hatte, saß ich wirklich ein paar Tage in São Paulo fest.
So begann das neue Jahrtausend für mich mit der Erkenntnis, dass wir Menschen manchmal sehr schlau tun, aber dann von einfachen Dingen überrascht werden. Hat denn wirklich niemand daran gedacht, ob alle Computer begreifen, dass das Jahr jetzt nicht mehr 19XX, sondern 2000 ist? …Ich glaube, es ist zu allen Zeiten wichtig, sich das zu überlegen: Was wissen wir alles nicht? Und warum sollten wir deswegen auch bescheiden sein?

Antje Boetius ist Direktorin des Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung.

Politisch real begann das 21. Jahrhundert damit, dass kein Engländer – noch bis in dieses 20. Jahrhundert Repräsentant eines Weltmachtanspruchs – einen Mucks gemacht hat, als der Hongkong-Vertrag, der bis 2048 beschlossen war und die Entwicklung in Hongkong als selbstständige, von China unabhängige Entwicklung garantieren sollten, ohne weiteres kassiert wurde. Es begann, als die Krim kassiert wurde, ohne dass sich irgendjemand gewehrt hat. Es begann, als man tatenlos hingenommen hat, dass bestimmte Eroberungen, Tibet durch die Chinesen zum Beispiel, auf der Weltebene keinerlei Reaktion erzeugt haben. Mit anderen Worten: das 21. Jahrhundert beginnt in dem Augenblick, in dem nicht mehr verbindliche Gesetze – Naturgesetze wie menschlich geschaffene Gesetzeswerke – die entscheidende Größe sind, sondern der Wettbewerb um die kriminelle Umgehung, um das Lügen, um das Zerstören, um das Fintieren.

Bazon Brock ist Denker im Dienst der Denkerei Berlin und emeritierter Professor am Lehrstuhl für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Universität Wuppertal

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