Die Globalisierung des Wissens in der Geschichte

In der C! Edition “Wem gehört das Wissen der Welt” argumentiert Prof. Jürgen Renn, Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, dass die Bewältigung der heutigen Herausforderungen eine “Evolution des Wissens” erfordert. Der Beitrag ist aktueller denn je:

“In Zukunft müssen sehr viel mehr als bisher die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Wissensdimensionen berücksichtigt werden. Dazu gehören nicht nur die gesellschaftlichen Kontexte wissenschaftlicher und technischer Probleme, sondern auch die historisch spezifische Rolle bestimmter Wissensbilder, der Reichtum und die Verschiedenartigkeit lokalen Wissens, und die thematischen Verbindungen, die oft durch Disziplingrenzen getrennt werden.”

Lesen Sie hier im Detail, warum:

Die Globalisierung des Wissens

Das Thema der Globalisierung lässt sich ohne eine umfassende Geschichte des Wissens nicht verstehen. Es gibt nicht nur die ökonomische und politische Globalisierung, sondern auch eine Globalisierung des Wissens. Sie hat eine lange Geschichte, ohne die sich unsere Gegenwart nicht begreifen lässt.
Aus der Geschichte der Globalisierung des Wissens folgt, nach meiner Überzeugung, dass wir unseren Umgang mit Wissen radikal verändern müssen … In allen Prozessen der Wissenserzeugung und Wissensvermittlung muss in Zukunft das Nachdenken über die historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge von Wissen einen größeren Raum einnehmen. Ansonsten riskieren wir, dass unsere unverzichtbaren längerfristigen Ziele, wie ein global nachhaltiges Wirtschaften, die Erhaltung unserer natürlichen Lebensbedingungen, eine gerechtere und friedlichere Weltordnung und die Verminderung von Leid durch Hunger und Krankheiten – dass diese Menschheitsziele ihren Ausdruck vor allem in abstrakten religiösen und ethischen Normen oder abstrakten politischen Ideologien und Programmen finden, deren praktische Wirksamkeit oft sehr begrenzt bleibt und möglicherweise einfach nicht ausreicht, um zukünftige katastrophale Entwicklungen abzuwenden.

Alle diese Herausforderungen haben nicht nur eine politische und ethische Dimension, sondern stellen Herausforderungen an die Erzeugung und Verbreitung von Wissen dar, und wir müssen an die Schaffung einer neuen Wissensökonomie denken, die es uns ermöglicht, politische, wirtschaftliche und ethische Probleme zugleich als konkrete Wissensprobleme anzugehen. Umgekehrt müssen wir zudem lernen, dass diese konkreten Wissensprobleme durch ihre gesellschaftlichen und historische Kontexte bedingt werden.
[…]

“Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen Art von Evolution, von der das Überleben unserer Gattung abhängen wird.”

Inzwischen hängt das weitere Überleben unserer Spezies in einem Maße von der Entwicklung wissenschaftlichen Wissens ab, die es nahelegt, von einer neuen, dritten Etappe der Evolution zu sprechen, nach der biologischen und der sozio-ökonomischen Evolution. Seit den Anfängen der Menschheitsentwicklung hat die gesellschaftliche Entwicklung bekanntlich die biologische Evolution überlagert. Das Überleben unserer Spezies hängt seitdem nicht nur von den natürlichen Bedingungen, sondern auch von dieser „selbst gemachten“ Evolution und den durch sie geschaffenen materiellen und kulturellen Voraussetzungen ab. Auch wenn wir wollten, könnten wir nicht einfach zu einem vermeintlichen Ursprungszustand zurückkehren. Die Vertreibung aus dem Paradies ist unwiderruflich. Es ist bemerkenswert, wie sich aus einem scheinbaren Nebenprodukt der biologischen Evolution, nämlich den Fähigkeiten des Menschen zu einer bestimmten Form von Werkzeuggebrauch und sozialer Interaktion, eine Entwicklung mit eigenständiger Dynamik ergeben hat, eben die „sozioökonomische Evolution“. Zu dieser Entwicklung von Gesellschaft und Kultur gehörte von Anfang an auch die Erzeugung und Weitergabe von Wissen, später auch von Wissenschaft.

Jetzt aber stehen wir an der Schwelle zu einer neuen Art von Evolution, von der das Überleben unserer Gattung abhängen wird. Auch wenn sich die Evolutionsgesetze im Einzelnen sehr unterscheiden, sind alle Formen der Evolution durch die fehlende Ausrichtung auf ein vorbestimmtes Ziel, durch trial and error, und durch die Umwandlung zufälliger Ausgangsbedingungen in nicht zu umgehende Voraussetzungen der weiteren Entwicklung, kurz, durch die Unumkehrbarkeit der Prozesse charakterisiert. Auch die Wissensevolution ist zunächst als Nebenprodukt entstanden, gewissermaßen aus dem Wissensüberschuss, den die sozio-ökonomische Entwicklung hervorgebracht hat. Doch heute ist die Erzeugung und Weitergabe von wissenschaftlichem Wissen nicht nur ein Teilaspekt gesellschaftlicher Prozesse, sondern vielfach bereits ihre Voraussetzung.

“Die Brisanz der Wissensevolution lässt sich am Beispiel der Entwicklung und Verbreitung der Nukleartechnologie veranschaulichen.”

Die charakteristischen Züge dieser dritten Etappe treten am deutlichsten hervor, wenn man die großen Herausforderungen ins Auge fasst, denen die Menschheit heute beim Umgang mit Wissen gegenübersteht. Sie sind, wie der menschliche Einfluss auf das Klima, zunächst einmal Folgen der sozio-ökonomischen Evolution, in diesem Falle der Ausbeutung fossiler Brennstoffe seit der industriellen Revolution. Der Umgang mit den Konsequenzen solcher ungeplanten globalen Experimente erfordert jedoch weitaus mehr und vor allem anderes Wissen, als es auf die bisher bekannte Weise erzeugt werden kann.

Stattdessen werden wir auf die neue, noch weitgehend unbekannte Dynamik der Wissensevolution und ihre Gestaltung angewiesen sein, um Herausforderungen wie die Klimaentwicklung, das globale Energieproblem, die Proliferation von Nukleartechnologie oder die globale Gesundheitsfürsorge zu bewältigen. Denn alle diese Herausforderungen sind nicht nur globaler Natur, sie erfordern auch eine global denkende und kooperierende Wissenschaft, die zugleich dazu in der Lage sein muss, auch die stark variierenden lokalen Wissenskontexte in ihre Lösungsvorschläge zu integrieren. Vor allem aber muss es ihr gelingen, neues Grundlagenwissen auf einer Skala zu generieren, die bisher weitgehend der angewandten Forschung vorbehalten war, ohne sich jedoch von politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Partikularinteressen vereinnahmen zu lassen. 

Die Brisanz der Wissensevolution lässt sich am Beispiel der Entwicklung und Verbreitung der Nukleartechnologie veranschaulichen, ein Thema, das zur Zeit wieder von tragischer Aktualität ist. Da ist zum einen der grundsätzliche „dual-use“-Charakter dieser Technologie, also die Unvermeidbarkeit einer militärischen Dimension. Da sind andererseits die Gefahren allein der natürlichen Radioaktivität für das menschliche Leben. Aber selbst wenn es uns gelänge, diese Technologie ganz abzuschaffen, bliebe das Wissen über Nuklearsprengstoffe erhalten und wäre leicht zu reproduzieren. Auch die enormen Mengen von radioaktivem Material können nicht einfach entsorgt werden: Jedes Jahr fallen weltweit ungefähr zehntausend Tonnen verbrauchter Brennstoffe aus Kernreaktoren an. Der globale Vorrat an hoch angereichertem Uran liegt bei etwa 1800 Tonnen [1]. Die Halbwertszeit von Plutonium liegt bei zehntausenden von Jahren, die Halbwertszeit von Uran in einer Größenordnung von bis zu Milliarden von Jahren und damit jenseits jeder vorstellbaren historischen Zeitskala. 

“Das Energieproblem ist derart komplex, dass die Forschung sich nicht vorzeitig auf eine Richtung festlegen darf.”

Auch der militärisch-industrielle Komplex, ein anderes Resultat dieser Entwicklung, ist nicht ohne Weiteres aus der Welt zu schaffen. Denn die fünf größten Rüstungsunternehmen in den Vereinigten Staaten beschäftigen mehr als eine halbe Million Menschen, bei einer Wirtschaftsleistung von über 80 Milliarden Dollar jährlich [2]. Diese Fakten zeigen, wie unwiderruflich solche Experimente im globalen Maßstab sind. Da das globalisierte Wissen, das sie produzieren, nicht mehr ausgelöscht oder gar unter Verschluss gehalten werden kann, wird es erst dann kontrollierbar, wenn weiteres Wissen – und zwar nicht nur technologischer Art, sondern auch über die gesellschaftlichen und politischen Prozesse, die notwendig sind, um mit den sehr langfristigen Folgen leben zu können – erzeugt wird. 

Wie schwierig es ist, solches Wissen zu gewinnen, wird erkennbar, wenn wir die Kerntechnologie nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den Herausforderungen globaler Energieversorgung betrachten. Ein zukünftiges Energieversorgungssystem, das nachhaltig und klimagerecht sein muss, wird in verschiedenen Schritten entwickelt werden müssen, wobei jeder Schritt in erheblichem Ausmaß neues wissenschaftliches Grundlagenwissen sowie beträchtliche gesellschaftliche und ökonomische Anpassungen erforderlich machen wird.
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Sämtliche Konzepte einer künftigen Energieversorgung müssen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die verschiedenen biologischen und physikalisch-chemischen Regulationssysteme auf der Erde einerseits und im Hinblick auf die Dynamik gesellschaftlicher Mechanismen andererseits entworfen und überprüft werden. Obwohl der freie Markt das einzig verfügbare System zur Regulierung des globalen Energiesystems ist, ist es durch ihn bisher nicht gelungen, eine angemessene Lösung dieser Probleme zu schaffen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die lokalen Preise die globalen Kosten nicht wirklich widerspiegeln. Auch daran wird deutlich, wie sehr die zukünftigen Lösungsperspektiven von den Möglichkeiten einer Wissensökonomie abhängig geworden sind. 

Das Energieproblem ist jedenfalls derart komplex, dass die Forschung sich nicht vorzeitig auf eine Richtung festlegen und nicht nur die technischen Herausforderungen im Blick haben darf, sondern mit alternativen Energieversorgungsszenarien arbeiten muss 
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Außerdem muss es gelingen, eine globale Perspektive mit den Notwendigkeiten der jeweils sehr unterschiedlichen lokalen Versorgungsszenarien zu verbinden. Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass die großen Herausforderungen ein strukturelles Wissensdefizit offenlegen. Strukturelles Wissensdefizit – das bedeutet, dass es weder einfach so weitergehen kann wie bisher, nach dem Motto more of the same, noch dass es Sinn hat, nach alternativer Wissenschaft oder sogar Alternativen zur Wissenschaft zu rufen.

“Was wir brauchen, ist eine problem-, kontext- und geschichtsbewusste Grundlagenforschung in einer völlig neuen Größenordnung.”

Wissenschaftliches Wissen ist überlebenswichtig, aber Wissen ist nicht einfach ein Rohstoff, den wir beliebig vermehren könnten. Vielmehr müssen wir nach neuen Formen suchen, um genau das Wissen, das wir dringend benötigen, zu erzeugen und zu verteilen – und zwar immer zugleich im Bewusstsein, dass es nur einer von unmittelbaren Anwendungsinteressen befreiten Grundlagenforschung gelingen kann, dieses Wissen zu produzieren. Auch wenn das paradox erscheint. Was wir brauchen, ist eine problem-, kontext- und geschichtsbewusste Grundlagenforschung in einer völlig neuen Größenordnung.

Die Wissensevolution, auf die wir angewiesen sind, um diese reflektierte Grundlagenforschung hervorzubringen, steht gerade erst am Anfang. Ihre Beziehung zur voranschreitenden Globalisierung des Wissens ist offensichtlich, aber viele andere ihrer Merkmale sind noch unklar. Eindeutig ist hingegen, dass sie uns auch dazu zwingt, der Wissenschaft einen anderen Stellenwert in unserem täglichen Leben zu geben. Wissenschaft eben nicht nur als Quelle von Expertenwissen, sondern als letztlich allen zugängliche Sphäre des Nachdenkens über unsere gemeinsamen Herausforderungen. Konkret sind z.B. die Curricula unserer Universitäten neu zu überdenken, und zwar im Hinblick auf den alten Anspruch von Comenius: „Alle alles in Rücksicht auf das Ganze zu lehren!“ 

In Zukunft müssen sehr viel mehr als bisher die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Wissensdimensionen berücksichtigt werden. Dazu gehören nicht nur die gesellschaftlichen Kontexte wissenschaftlicher und technischer Probleme, sondern auch die historisch spezifische Rolle bestimmter Wissensbilder, der Reichtum und die Verschiedenartigkeit lokalen Wissens, und die thematischen Verbindungen, die oft durch Disziplingrenzen getrennt werden. 

Anmerkungen der Redaktion:
[1] Das International Panel on Fissile Materials schätzte den globalen Vorrat an hoch angerreichertem Uran zuletzt im Jahr 2021 auf 1255 Tonnen.
[2] Die fünf größten Rüstungsunternehmen der USA beschäftigen heute ca. 620.000 Menschen und erzielen einen rüstungsbezogenen Jahresumsatz von ca. 165 Milliarden US-Dollar. Quelle: Statista, Wikipedia.

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