C! Interview mit Parag Khanna

Das Convoco-Thema 2019 lautet Der Wert Europas in einer bedeutsameren Weltgeschichte. Convoco sprach mit Parag Khanna über den Aufstieg Asiens. Das 20. Jahrhundert war das amerikanische, das 19. Jahrhundert das europäische. Das 21. Jahrhundert, so Parag Khanna, wird das asiatische sein. Es gilt daher, einen für alle annehmbaren Weg zu finden: „In allen Bereichen des globalen Lebens muss Dialog in Synthese münden: Westlicher Atomismus und östlicher Holismus, Humanismus und wissenschaftlicher Materialismus, Freiheit und Harmonie, Demokratie und Technokratie müssen eine Verbindung eingehen.“

Convoco: Technokratien, so sagen Sie, sind die Zukunft Asiens. Könnten sie – angesichts von KI und Big Data – auch die globale Zukunft sein? China hat zum Beispiel das Sozialpunktesystem eingeführt. Gibt das Technokratien einen entscheidenden Vorteil? Werden europäische Demokratien davon beeinflusst werden?

Parag Khanna: Technokratien sind im Grunde eine europäische Erfindung. Sie gründen weniger auf Technik als auf administrative Kapazität und staatliche Exzellenz. Allerdings erleben wir heute die Verquickung von Daten und Demokratie: Bürger nutzen bei Wahlen, in Umfragen und sozialen Medien die Chance, unmittelbar zu reagieren, Regierungen fördern wirksam bürgerschaftliches Engagement und die Effizienz des öffentlichen Dienstes. Asien ist hier durchaus erfolgreich, doch viele europäische Länder – insbesondere die Nationen Skandinaviens – stehen den fernöstlichen Nachbarn in nichts nach. Das chinesische Sozialpunktesystem zeigt, dass Big Data, eingesetzt im Interesse guter Regierungsführung, sowohl positive als auch negative Konsequenzen mit sich bringen kann.

C: Wie geht Asien mit dem „Problem des schlechten Kaisers“ um, von dem Fukuyama spricht? Eine Regierung, die quasi keiner Kontrolle durch unabhängige Gerichte, freie Medien oder ein gewähltes Parlament unterliegt, hat große Kraft für positive Veränderungen, wenn der Kaiser gut ist. Doch es gibt auch die andere Seite der Medaille. Rechtsstaatlichkeit ist eines der wichtigsten Prinzipien Europas. Welche Rolle spielt es für Sie? Muss der Westen seine Vorstellung von einer „auf globalen Regeln basierenden Ordnung“ zu Gunsten der in Asien präferierten chinesischen Idee der „Schicksalsgemeinschaft“ revidieren?

PK: Da die meisten Staaten Europas heute Mehrparteiensysteme haben, besteht weniger die Gefahr eines schlechten Kaisers als die des ungesteuerten Recyclings einer ineffizienten politischen Führung. Vergessen wir nicht, dass weitaus mehr Asiaten in Demokratien als in autoritären Staaten leben. Indien, Indonesien und die Philippinen haben zusammen 1,8 Milliarden Einwohner, mehr als die Bevölkerung Chinas. Überwiegend handelt es sich bei den asiatischen Regierungen um Systeme, in denen Autorität kontrolliert wird und Bürger keine Angst haben, ungeeignete Politiker abzuwählen. Das Volk wehrt sich gegen illiberale Praktiken: Modi in Indien und Duterte auf den Philippinen sind Beispiele, die zeigen, wie schwer es sein kann, sich in diesen Situationen zu halten. Global Governance impliziert nicht „Schicksalsgemeinschaft“ vs. „globale, regelbasierte Ordnung“; vielmehr sind beide zwei Seiten einer Medaille.

C: Sie sagen: „Asiaten streben nicht nach Eroberung, sondern nach Respekt“. Was bedeutet das für die europäisch-asiatischen Beziehungen? Verfügt Europa über besondere Stärken, auf denen eine langfristige Strategie gründen sollte? Was heißt „nach Respekt streben“ aus der Perspektive der Länder Asiens?

PK: In Asien weiß man, insbesondere nach der japanischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts und angesichts der inhärenten Multipolarität einer von enormer Vielfalt geprägten kontinentalen Ordnung, dass gegenseitige Eroberung keine Option ist. Daher pflegt man das Motto „leben und leben lassen“. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind die Stärken Europas, der Kontinent weist hochentwickelte und diversifizierte Ökonomien auf, die sich die große eurasische Landmasse mit Asien teilen. Europa ist geprägt von einer rapiden Annäherung von Infrastruktur und Handel über die neuen Seidenstraßen, ein Prozess, der sich weiter beschleunigen wird. Die Europäer sollten ihre Asienpolitik harmonisieren und sich nicht bei Investitionen und Menschenrechtsfragen von China und anderen Staaten spalten lassen.

C: Sie sagen, Asien wolle die ökonomische Globalisierung, nicht Freihandel. Welche Unterschiede erkennen Sie zwischen Asien und dem Westen mit Blick auf den Markt? Nach orthodoxer kapitalistischer Interpretation führt Wachstum automatisch zu Umverteilung. In Asien gilt eine fiskalische Umverteilung als Antrieb für gleichberechtigtes Wachstum. Findet sich diese Sichtweise im kürzlich präsentierten Inclusive Development Index (IDI) wieder, der mittlerweile auf dem Kontinent das Bruttosozialprodukt als Maßstab des nationalen Fortschritts ersetzt hat?

PK: Der Westen repräsentiert heute nicht mehr den „freien Markt“ im Gegensatz zum asiatischen „Staatskapitalismus“, denn in Wirklichkeit praktiziert die ganze Welt eine Art „Mischkapitalismus“ mit auf verschiedenen Ebenen greifender staatlicher Intervention in die Wirtschaft. Mittlerweile sollte jeder gemerkt haben, dass Wachstum allein nicht zu angemessener Umverteilung und einer gerechten Gesellschaft im Zeitalter der Finanzglobalisierung führt. Der Inclusive Development Index (IDI) ist ein Schritt in die richtige Richtung. 

C: Die chinesische Führung beschreibt die Rolle des Landes in der Sicherheitsordnung Asiens als „friedlichen Aufstieg“ (Hu Jintao), alternativ als „harmonische Welt“ (Xi Jinping), und verweist so darauf, dass von friedlicher Koexistenz und Zusammenarbeit beide Seiten profitieren. Vor dem Ersten Weltkrieg profitierte Europa von bis zu diesem Zeitpunkt nie gesehenem Wachstum und ökonomischer Integration. Eine dauerhafte friedliche Zusammenarbeit wäre zum Vorteil aller gewesen. Doch der Zusammenbruch des Gleichgewichts der Mächte führte zum Krieg. Könnte die tendenziell friedliche Kooperation in Asien unter Umständen gefährdet sein? Wo zeichnen sich die größten Spannungen ab?

PK: Ich sehe in Asien mindestens neun große Konfliktregionen, darunter Taiwan, Kaschmir, Nordkorea und das Südchinesische Meer. Hier überall kann die Lage eskalieren. Bisher begegnet Asien geopolitischen Spannungen jedoch recht erfolgreich mit geoökonomischer Integration. Überdies greifen Konflikte in Asien – anders als historisch in Europa – nicht notwendigerweise auf andere Länder oder Regionen über, sondern bleiben örtlich begrenzt. Damit ist Konfliktbeilegung, selbst wenn Krieg droht, immer eine Option, und sei es, um den Fortschritt der asiatischen Ordnung insgesamt voranzutreiben.

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