Die Zukunft des kapitalismus
Convoco hat ein Interview mit dem Soziologen Jens Beckert über „Die Zukunft des Kapitalismus“ geführt. Jens Beckert ist Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Professor für Soziologie an der Universität zu Köln.
Convoco: Convoco behandelt 2018 das Thema „Die Zukunft des Kapitalismus – eine Vision“. Die Idee dahinter ist, sich die möglichen Formen der Zukunft des Kapitalismus vorzustellen. Es ist leichter, die Zukunft zu erfinden, als sie vorherzusagen. Durch Visionen erfindet man die Zukunft. Sie haben ein Buch geschrieben zur Frage, inwieweit Imaginationen über die wirtschaftliche Zukunft zur Dynamik des Kapitalismus beitragen. Sie sprechen von Zukunftsbildern. Was sind Imaginationen der Zukunft?
Jens Beckert: Die Zukunft gibt es nur als eine Vorstellung, da es aus logischen Gründen keine zukünftigen Fakten geben kann. Solche Vorstellungen sind jedoch ungeheuer wichtig für unser gegenwärtiges Handeln. So stellen wir uns vor, dass sich das Erdklima um mehr als zwei Grad erhöhen wird, wenn wir den CO2-Ausstoß nicht verringern. Diese Vorstellung ist Grundlage für gegenwärtige Maßnahmen in der Klimapolitik. Oder wir stellen uns vor, wie es wäre, wenn wir ein bestimmtes Konsumprodukt – sei es das neue iPhone oder ein bestimmtes Paar Schuhe – nur endlich hätten. Diese Imagination motiviert unser Handeln. Imaginationen der Zukunft sind in allen gesellschaftlichen Bereichen wegweisend.
C: Sie zitieren Augustinus von Hippo „Erwartungen sind die Gegenwart der zukünftigen Dinge“. Was bewirken Erwartungen?
JB: Erwartungen sind der Treibstoff unserer modernen kapitalistischen Wirtschaft. Akteure – seien es Unternehmer, Investoren oder Konsumenten – treffen ihre Entscheidung im Hinblick auf zukünftige Ergebnisse. Erwartungen orientieren damit das Handeln. Charakteristisch für die moderne Wirtschaft ist dabei, dass die Zukunft als offen und unvorhersehbar, zugleich aber als beeinflussbar gesehen wird. Erwartungen sind unter diesen Bedingungen Imaginationen einer zukünftigen Welt, deren Eintreffen auch von den gegenwärtigen Handlungen abhängt. Ob sie tatsächlich eintreffen, lässt sich aber nicht voraussehen.
C: Sie sprechen von fiktionalen Erwartungen. Was meinen Sie damit?
JB: Akteure stellen sich eine zukünftige Gegenwart vor und bauen darauf ihre Entscheidungen. Investitionen in die Elektromobilität etwa beruhen auf der Vorstellung, dass der Elektroantrieb den Verbrennungsmotor verdrängen wird. Doch niemand kann vorhersehen, ob dies tatsächlich so kommen wird. Die Investition in Tesla-Aktien kann eine Goldgrube sein oder eine haltlose spekulative Übertreibung. Für die Investition tun wir aber so, als ob sich die Zukunft in der vorgestellten Weise verändern würde. Dieses als ob gilt sowohl für Erwartungen unter Bedingungen von Ungewissheit als auch für fiktionale Texte. Der Autor eines Romans tut so, als ob die beschriebene Handlung tatsächlich so stattfinden würde oder stattgefunden hätte. In diesem Sinn spreche ich von fiktionalen Erwartungen.
C: Ist die Ungewissheit ein Grundpfeiler des Kapitalismus?
JB: Die Dynamik des Kapitalismus beruht auf dem immerwährenden Entstehen des Neuen. Technologische Produktinnovationen, aber auch Prozessinnovationen charakterisieren unsere Wirtschaftsgeschichte während der letzten 200 Jahre. Diese Neuheit ist immer mit Ungewissheit verbunden. Es müssen Entscheidungen in der Gegenwart getroffen werden, deren Ergebnisse wir nicht vorhersehen können. Darin liegen die Chancen, aber auch die Risiken. Die Dynamik des Kapitalismus umfasst daher nicht nur das ungeheure Wachstum, das unsere Gesellschaften fundamental transformiert hat, sondern auch die immer wiederkehrenden Krisen. Zuletzt die Finanzkrise von 2008.
C: Erwartungen unter Bedingungen von Ungewissheit betrachten Sie als fiktional. Wieviel Irrationalität ist im Spiel?
JB: Wirtschaftsakteure versuchen natürlich so genau wie irgend möglich ihre Entscheidungen zu kalkulieren. Doch hinter den vielen Berechnungen stecken Annahmen, die sich selbst nicht kalkulieren lassen. Ein historisches Beispiel macht dies deutlich. Gottlieb Daimler prognostizierte einst, dass der Automarkt in Deutschland nicht größer als eine Million Fahrzeuge werden würde, weil es schlicht nicht mehr Chauffeure gebe. Dass die Käufer der Autos sich selbst hinters Steuer setzen würden, kam ihm gar nicht erst in den Sinn. Die Zukunft wurde von ihm als eine Prolongation der Vergangenheit entworfen. Eine solche Kulturgebundenheit von Kalkulationen ist uns in der Situation nicht bewusst und müsste auch vertuscht werden, damit das Narrativ glaubwürdig bleiben kann.
C: Die kapitalistische Wirtschaft erweitert den Zeithorizont durch Imagination der Zukunft. Kann man sagen, dass sich in der Ökonomie alles um die Zukunft dreht?
JB: Ja, die Moderne, von der die kapitalistische Wirtschaft ein Teil ist, ist ganz auf die Zukunft hin ausgerichtet. Gegenwärtiges Handeln ist durch Vorstellungen von der Zukunft motiviert. Jeder Kredit, jedes Innovationsprojekt, aber auch das Konsumverhalten sind dadurch gekennzeichnet. Beim Konsum wird dies als “antizipativer Konsum” bezeichnet. Die Gegenwart und die Vergangenheit werden in der Moderne desavouiert. Sie sind nur noch ein eingeübter Vorrat, der teilweise in die Imaginationen der Zukunft eingeht.
C: Der Soziologe Pierre Bourdieu hat Veränderungen der temporalen Ordnung als festen Bestandteil der kapitalistischen Entwicklung angesehen. Traditionelle Gesellschaften betrachteten die Zukunft als Teil einer zirkularen Wiederholung der Geschehnisse. Die Zukunft in der temporalen Disposition des Kapitalismus ist ein offener Raum, sie beinhaltet Chancen und Risiken. Kennzeichen für den Kapitalismus ist, dass die Akteure an eine Zukunft glauben. Wie entstand die spezifische temporale Disposition des modernen Kapitalismus?
JB: Aus kulturellen und institutionellen Veränderungen. In der frühen Neuzeit verlor die Kirche ihre Deutungshoheit über die Zukunft. Die Zukunft wurde als menschengemacht verstanden. Am deutlichsten kommt dies in den Fortschrittsnarrativen der Aufklärung zum Ausdruck. Zugleich setzten sich langsam der Wettbewerb und der Markt als Allokationsmechanismus der Wirtschaft durch. Wettbewerb zwingt Wirtschaftsakteure, die Zukunft gegenüber der Gegenwart als verändert wahrzunehmen. Jeder weiß, dass die Konkurrenten versuchen, ihre Position durch Neuerungen zu verbessern und dass damit die eigene Position im Markt untergraben wird. Darauf muss man sich mit eigenen Innovationen einstellen. Die gegenwärtigen Formen haben keine Zukunft. Es hilft nichts: im Kapitalismus muss man sich an der unbekannten Zukunft orientieren.
C: Inwiefern beeinflussen promissorische Geschichten über technologische Entwicklungen die Gesellschaft?
JB: Innovationen bestehen zunächst als Vorstellung. Um Investitionen zu generieren, müssen Akteure an die Verheißungen der Innovation glauben. Hierfür werden promissorische Geschichten eingesetzt. Im Moment ist die Künstliche Intelligenz dafür ein gutes Beispiel. In diesen Technologien wird eine verheißungsvolle Zukunft gesehen, was von Wissenschaftlern, Politikern, Investoren und Journalisten aufgegriffen und weiter angeheizt wird. Der Staat und die großen Forschungsorganisationen mobilisieren Gelder, Unternehmen investieren, Forscher konzentrieren sich auf dieses Gebiet. Zunächst sind dies aber nur Versprechungen. Doch die Versprechungen, soweit diese als glaubwürdig bewertet werden, motivieren die Investitionen. Die Künstliche Intelligenz ist ein gutes Beispiel, weil es in diesem Bereich in den 60er Jahren bereits einen Hype gab, der dann völlig versandet ist.
C: Was sind die Instrumente der Imagination?
JB: Als Instrumente der Imagination bezeichne ich Sozialtechnologien, mit deren Hilfe Akteure in der Wirtschaft glaubhafte Narrative der Zukunft entwickeln. Nehmen wir das Marketing. Die Aufgabe des Marketings besteht darin, Konsumenten Appetit auf Produkte zu machen, die sie noch nicht besitzen. Dies geschieht durch das Erzählen von Geschichten, die Imaginationen des zukünftigen Lebens mit dem Produkt provozieren. Marketing befördert den antizipativen Konsum. Aber auch Wirtschaftsprognosen sind ein Instrument der Imagination. Die Vorhersage von Wachstumsraten, Inflation und Arbeitslosigkeit für das Folgejahr erlaubt den Akteuren in der Wirtschaft, ein Bild der Wirtschaft in der Zukunft zu konstruieren. Eine zukünftige Gegenwart, an der sie ihre Entscheidungen orientieren. Dass die Prognosen häufig nicht eintreffen, macht nichts. Sie werden einfach durch neue Prognosen ersetzt, die wieder eine Handlungsorientierung geben.
C: Wenn Erwartungen die Dynamik des Kapitalismus begründen, durch was könnte diese Dynamik unterbrochen werden?
JB: Durch überbordende Ungewissheit und durch Desinteresse. Wenn Investitionen in ihren Resultaten zu ungewiss erscheinen, kommt es zu dem, was Keynes einst als Liquiditätspräferenz bezeichnete. Es wird nicht genug investiert, die Wirtschaft bleibt unter ihrem Wachstumspotential. Auf der Nachfrageseite wäre Desinteresse der Konsumenten fatal. Wenn sich niemand mehr für die neueste Version des iPhone interessiert oder es die Menschen ausreichend finden, nur ein Paar Sportschuhe zu besitzen, wird die Wachstumsdynamik erlahmen.
C: Welche Vorstellungen sind die Feinde des Wachstums?
JB: Ironischerweise haben die Gegenbewegungen zum Kapitalismus diesen ja nicht besiegt, sondern wurden von ihm integriert. Aus der Arbeiterbewegung ging der Sozialstaat hervor, in vielen Facetten ist dies schlicht ein riesiger Markt. Aus der Hippiebewegung in Kalifornien entstand das Silicon Valley und aus der Ökologiebewegung der 70er Jahre sind die Unternehmen der erneuerbaren Energie entstanden. Wenn man den Kapitalismus für seine Ausbeutung der Entwicklungsländer kritisiert, dann entstehen eben fair-trade labels. Wirklich bedrohlich für den Kapitalismus wäre es, wenn sich niemand mehr für all die Neuheiten interessieren würde, wenn wir sagen würden: wir haben genug.
C: Wie wichtig sind Narrative für eine Gesellschaft allgemein?
JB: Wir können uns zur Welt nur verhalten, indem wir den sensorischen Eindrücken, die wir erleben, Sinn verleihen. Sinn wird ganz wesentlich durch Geschichten, also Narrative hergestellt, mit deren Hilfe wir die Geschehnisse ordnen. Dazu gehört auch, wie wir die sozialen Interaktionen, aus denen sich Gesellschaft konstituiert, wahrnehmen und wie wir die Zukunft betrachten. Ohne Sinn gibt es keine Gesellschaft und auch keine Wirtschaft.
C: Mit der Einführung des Konzepts der fiktionalen Erwartungen beabsichtigen Sie auch eine neue Bewertung von Max Webers Beobachtungen über die Entzauberung der kapitalistischen Moderne und die Gefangenschaft der Akteure im „stahlharten Gehäuse“. Bitte erklären Sie uns das.
JB: Gemeinhin verstehen wir die moderne Wirtschaft als Inbegriff von Kalkulation und Rationalität. Auch Max Weber hat dies so gesehen und in der berühmten Formulierung der Moderne als einem stahlharten Gehäuse zum Ausdruck gebracht. Doch gerade wenn wir den innovativen und den dynamischen Charakter des Kapitalismus verstehen wollen, kommt diese Sichtweise an ihre Grenzen. Die innovativen Ideen eines Start-ups lassen sich trotz aller Zahlen im Business-Plan eben nicht rational kalkulieren, sondern sind durch ungedeckte Überzeugungen und einen evokativen Überschuss gekennzeichnet. Joseph Schumpeter hatte hiervon eine klare Vorstellung. Für ihn ist der Unternehmer derjenige, der ein Projekt aus Überzeugung verfolgt, ohne dass die Ergebnisse kalkuliert werden könnten. Die Dynamik des Kapitalismus hat für ihn die Grundlage gerade im Ausbrechen aus dem stahlharten Gehäuse.
C: Was wünschen Sie sich für unseren heutigen Kapitalismus?
JB: Dass die Zukunft wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung viel stärker im Hinblick auf die Folgen für das politische Gemeinwesen und die Gesellschaft insgesamt reflektiert wird. Dabei kann man sowohl an die sich verstärkende soziale Ungleichheit in Gesellschaften als auch an die Folgen von Smartphones für soziale Nahbeziehungen denken. Wo wollen wir eigentlich hin? Mir ist klar, dass eine solche gesamtgesellschaftliche Reflexion und Steuerung in einer differenzierten Gesellschaft allenfalls Wunschdenken ist. Sie haben aber nach meinen Wünschen gefragt.
Jens Beckert, 2018: Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und kapitalistische Dynamik, Frankfurt: Suhrkamp Verlag.
Jens Beckert und Richard Brong (Hg.) 2018: Uncertain Futures. Imaginaries, Narratives and Calculation in the Economy, Oxford: Oxford University Press.