oftmals scheinen aktuelle Entwicklungen besser verständlich mit einem Blick zurück auf die Geschichte. Hier die Gedanken von CONVOCO!-Denker Prof. Dr. Jörn Leonhard, zu:
Wird Europa aus der strategischen Defensive herausfinden?

Das Konzept eines Europa als »benevolentes Imperium«, das nicht zum Offensivkrieg fähig ist und seine Ränder erfolgreich pazifiziert, kommt in der Gegenwart an seine Grenzen.
Betrachtet man das Europa der neuzeitlichen Geschichte historisch, dann gehören Einheitsvorstellungen und Krisenbewusstsein immer zusammen. Im Mittelalter entstand eine neuartige Einheitsvorstellung von Europa, die auf der Idee eines christlichen Abendlandes und einer Universalmonarchie gründete. Mit dem Umbruch der beiden Weltkriege begann eine intensivierte Auseinandersetzung mit dem dichotomischen Modell von Zentrum und Peripherie, von Europa und Außereuropa.
Was ist das Spezifische von Europa?
Es sind vor allem sechs besondere Krisenerfahrungen:
- Erstens zerbrach im Trauma der konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts mit der Glaubenseinheit auch die Idee eines unifizierenden, homogenen Abendlandes.
- Zweitens begann im frühen 18. Jhd. eine neuartige Differenzierung von Öffentlichkeit und Privatheit, was die Vorstellung individueller Autonomie genauso maßgeblich prägen sollte wie die Kultur des Rechts als regulative Idee.
Letztlich geht es, wie Immanuel Kant schon formuliert hat, darum, die Politik durch Recht zu binden. Die (verfassungs-)rechtliche Disziplinierung der Politik, ist in besonderer Weise ein spezifisch deutscher Beitrag zur abendländischen Rechtskultur, den wir nicht im Interesse des Profits oder um anderer ökonomischer Vorteile willen verraten dürfen. Die Achtung vor dem Recht, das Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung der Bürger garantiert, und damit Grundlage unserer Demokratie wie unseres Rechtsstaates ist, ist wichtiger als alles andere.
Peter Huber, CONVOCO! Highlights
- Drittens setzte am Ende des 18. Jhd. in den amerikanischen Kolonien wie in Frankreich eine Doppelrevolution ein. Sie war nicht allein von der politischkonstitutionellen Sphäre geprägt, mit Verfassungen, Rechtsstaatlichkeit und Parlamenten verbunden, sondern auch mit einer sozialen und wirtschaftlichen Dynamik.
- Viertens entwickelten sich als Folge der Industrialisierung und der demografischen Dynamik spezifische soziale und politische Integrationskonflikte.
- Fünftens entstanden aus den Revolutionen im Blick auf das neue Konzept der Volkssouveränität Nationen und Nationalstaaten […] Diese Entwicklung war mit dem Ideal einer Homogenisierung von Staaten und Gesellschaften nach innen verknüpft […] Aus der Erfahrung von Krieg und Gewalt resultierten seit dem späten 19. und dem frühen 20. Jhd. wichtige Ansätze, etwa die Idee eines variablen und flexiblen Gleichgewichts der Kräfte und nach 1918 die Vorstellung kollektiver Sicherheit, etwa im Völkerbund und langfristig in den Vereinten Nationen. Schließlich wirkte der europäische Nationalstaat des 19. Jhd. auch als Gehäuse für Demokratie und mögliche soziale Mobilität, für Wahlrecht und Schulpflicht, aber auch für die Wehrpflicht – auch hier ist die Ambivalenz Europas, das Nebeneinander von Teilhabeverheißung und Gewalt, nicht zu übersehen.
- Sechstens, gehört zu Europa, dass und wie Europa über sich hinauswuchs, expandierte und schließlich im Rahmen der Dekolonisierung schrumpfte. Alle Nationalstaaten in Europa wurden im Lauf des 19. Jhd. zu imperalisierenden Nationalstaaten. […] Auch aus dieser imperialen Expansion bei gleichzeitig zunehmender internationaler Konkurrenz resultierten die Zerfallskriege des frühen 20. Jhd., und aus diesen Erfahrungen speisten sich Ansätze für die wirtschaftliche und später die politische Integration nach 1945. So konnte sich nach 1945 und angesichts des Endes der europäischen Kolonialregime in Asien und Afrika die europäische Integration dynamisieren – mit dem immer wieder betonten Kern der deutsch-französischen Aussöhnung seit dem Beginn der 1960er Jahre.
Doch der nähere Blick erweist auch, wie schwierig es ist, aus solchen Bezugspunkten ein konzises Selbstbild für die Gegenwart zu formulieren. Um das, was Europa am Ende ausmacht, und auf welcher Grundlage sich Europa künftig behaupten soll, wird gestritten. Und vielleicht liegt in dieser Auseinandersetzung etwas Produktives, weil so die Leistungen und Gefährdungen erst begreifbar werden.
Aus der Erfolgsgeschichte einer nunmehr 70 Jahre dauernden Friedenswahrung durch die europäische Integration entstand ein wirkmächtiges Pazifizierungsnarrativ. Europa wurde nach den Weltkriegen zu einem Friedensraum, wie es keinen anderen in der neuzeitlichen Geschichte gibt. Diese Pazifizierung war drei Mal sehr erfolgreich:
- Um Westdeutschland nach 1945 politisch, wirtschaftlich und auch mental aus der Katastrophe des Nationalsozialismus und der Isolation des Nachkriegs zu führen.
- In der Reintegration autoritär geführter Staaten und Gesellschaften wie Griechenland, Spanien und Portugal seit den 1970er-Jahren.
- Und noch einmal nach dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 durch die Osterweiterung der EU.
Erleichterte die europäische Integration das friedliche Ende des Kalten Krieges 1989, so stellen die globalen Konflikte seitdem das historische Friedensprojekt Europas in Frage.