Was sind die Herausforderungen für demokratisches Regieren?

Was sind die Herausforderungen für eine repräsentative Demokratie im Anthropozän, verstanden als

  • neue geologische Epoche und
  • als grundlegende Infragestellung der Prinzipien und Denkweisen der Moderne?

Wir stehen keinen einzelnen, unabhängigen “Krisen” gegenüber, sondern komplexen und verflochtenen Problemkonstellationen, die sich gegenseitig verstärken. Nicht zuletzt handelt es sich auch um eine Krise der Handlungsansätze zu ihrer Bewältigung. 

Über die vergangenen drei Jahre hat sich Claudia Wiesner, Professorin für Politikwissenschaft und Jean-Monnet-Chair an der Hochschule Fulda, im Rahmen der CONVOCO! Edition intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt. Lesen Sie hier ihre Gedanken.

Was sind die Herausforderungen für demokratisches Regieren?

Krise der Moderne:

Die Krise der Demokratie ist direkt mit den Entwicklungen des Anthropozäns verknüpft, d.h. mit der allgemeinen Krise der Moderne und der modernen Denkweisen, sowie deren Regierungs- und Demokratieformen.

Das Anthropozän verdeutlicht nicht nur die Veränderungen, mit denen der Planet konfrontiert ist, sondern auch die Grenzen herkömmlicher Wissensannahmen, linearer Kausalitäten und der universellen Anwendbarkeit von Regierungstechniken.

Was macht Regieren im Anthropozän so schwierig?

Die Frage ist, ob und wie repräsentative Demokratien und ihre Regierungen die Herausforderungen bewältigen können.
Demokratie ist darauf angewiesen, dass die Menschen Demokratie leben. Aber die Demokratie muss in der Lage sein, sich zu verändern, ohne entstellt zu werden.

  1. Neue Denkweisen sind erforderlich:
    • Zwei wichtige Grundsätze des modernen Denkens werden infrage gestellt: die Idee, dass Mensch/Kultur und Natur voneinander getrennt sind, sowie die Vorstellung, dass das menschliche Handeln und die Politik eine Linearität und einfache Kausalität aufweisen.
    • Regieren ist keine reine Frage von Kontrolle und Regulierung mehr.
    • Sämtliches Leben auf unserem Planeten funktioniert in komplexen Systemen und Verflechtungen. Auf Kausalität und Linearität beruhende Modelle des Regierens können dies nicht abbilden.
  2. Die repräsentative Demokratie ist selbst ein komplexes und anspruchsvolles Regierungssystem:
    • Eine Pluralität von Interessen muss repräsentiert, eine Pluralität der Stimmen gehört werden.
    • Auch muss die Tatsache akzeptiert werden, dass Bürgerinnen und Bürger unterschiedliche Meinungen haben, Interessen ins Gleichgewicht gebracht und Kompromisse gefunden werden müssen. Ausschließlich oder vorrangig auf “die Wissenschaft” zu hören, wäre schlicht und einfach undemokratisch.
  3. Die gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen der notwendigen Transformationen wurden bisher unterschätzt.

Wie regiert die EU im Anthropozän?

Die Herangehensweise der EU ist, dass die komplexen Herausforderungen (Klimawandel, Sicherheit, neue Technologien, künstliche Intelligenz) auf unterschiedliche Schwerpunkte oder gar Politikfelder aufgeteilt und mit Fachwissen und Bürokratie verwaltet werden, anstatt sie mit komplexitätsorientierten Werkzeugen und Ansätzen in Angriff zu nehmen. Das heißt, die EU versucht mit ihren Ansätzen weiterhin, komplexe Problemfelder auf herkömmliche Art und Weise zu steuern, ohne die Bedingungen des Anthropozäns zu berücksichtigen. Expertokratie und Technokratie verstärken jedoch die Probleme der Demokratie, da sie eine stärkere Depolitisierung und weniger Demokratie mit sich bringen.

Die EU reagiert auf das Anthropozän weitestgehend gemäß dem Regierungsstil, den sie seit Jahrzehnten entwickelt hat und praktiziert. Anstatt eine Ursache und eine Wirkung zu sehen, zielen ihre Ansätze jetzt auf mehrere Ursachen und mehrere Wirkungen ab, bleiben jedoch linear.

Was können wir tun?

In einer zunehmend ungewissen und unsicheren Welt muss politisches Wissen neu gedacht und erlernt werden. Die Grundlagen unserer Gesellschaft und Wirtschaft, also der liberalen Moderne selbst, müssen hinterfragt werden. Müssen wir Tiere und Pflanzen in unsere demokratischen Entscheidungsfindungssysteme einbeziehen? Wie sollten wir die Fragen von Umwelt- und Klimagerechtigkeit sowie die Ungleichheiten in der Welt angehen? Wie können wir Gesellschaften nachhaltig machen?

Was geschehen sollte:

  1. Es muss ein nachhaltiger, wirklich “postmoderner” Regierungsstil entwickelt werden, mit dem sich unterschiedliche Interessen und Machtgefälle ins Gleichgewicht bringen, konkrete Konflikte überwinden und eine gerechtere Welt schaffen lassen – dieser wäre überhaupt erst einmal zu denken.
  2. Expertokratie und Technokratie verstärken die Probleme der Demokratie.
    Es ist ratsam, bei der Bewältigung der Probleme auf das Potenzial politischer und öffentlicher Debatten zu vertrauen.
  3. Regieren muss die Erkenntnis umsetzen, dass es keine einfache Ursache-Wirkung-Beziehung und keine Wirkung ohne Nebenwirkung gibt. So kann die Wirkungskaskade einer Maßnahme nie vollständig im Vorhinein bekannt sein. Regierungsmethoden müssen sich Komplexität und mangelnder Vorhersagbarkeit konstruktiv stellen. Ansätze aus der Quanten- und Chaostheorie berücksichtigen dies.
  4. Die wirtschaftlichen Folgen des ökologischen Wandels müssen abgeschwächt werden.

Dieser Text basiert auf Beiträgen aus: Demokratie im Anthropozän: Wie und warum das Ende von Sicherheit verändert, wie wir leben und regieren aus der neuen CONVOCO! Edition „Wie können wir eine lebbare Welt gestalten?” (März 2025), sowie Beiträgen der CONVOCO! Editionen „Halten die Systeme im Ernstfall?“ (2024) und  „Gleichheit in einer ungleichen Welt“ (2023).

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