Was hat zum Brexit geführt?

Ein harter Brexit am 31.12.2020 wird immer wahrscheinlicher. Die Verhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union haben einen neuen Tiefpunkt erreicht.

In unserem Convoco Band Der Wert Europas in einer bedeutsameren Weltgeschichte und in unseren Podcasts haben sich einige unserer Denkerinnen und Denker über die Ursachen des Brexits Gedanken gemacht. Hier ihre Ausführungen zu der Frage: 

“Was hat zum Brexit geführt?”

Großbritannien hat von der Europäischen Union am allerwenigsten profitiert

“Der Grund dafür sind die relativ niedrigen Handelskosten mit Ländern außerhalb der Europäischen Union (u.a. wegen der geringen Sprachbarrieren), zudem ist der heimische Markt der zweitgrößte von allen EU-Mitgliedstaaten und die Art komparativer Vorteile beinhaltet Netto-Exporte in die Dienstleistungssektoren, bei denen der europäische Binnenmarkt relativ unterentwickelt ist. Der Nutzen einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist daher im Vereinigten Königreich geringer als anderswo.– Gabriel Felbermayr –

in: “Europa und die globale Wirtschaftsordnung”, Convoco Edition 2020.

Warum fühlen Engländer anders?

Birke Häcker richtet unsere Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichen Rechtskulturen.

Die deutschen und französischen Rechtskreise fußen auf der römisch-kanonischen Rechtstradition, “während sich das englische Common Law aufgrund der frühen politischen und administrativen Zentralisierung des Landes weitgehend unabhängig davon entwickelte.”

“Bereits im Grundtenor unterscheidet sich das merkantil geprägte Common Law stark von den kontinentaleuropäischen Kodifikationen. Wie schon ihr Name verrät, sind Gesetzbücher wie der französische Code civil oder das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch am Leitbild der bürgerlichen Zivilgesellschaftausgerichtet.[…] Das englische Recht, das sich Bestrebungen nach umfassender Kodifikation stets widersetzt hat und deshalb weiterhin primär auf richterlichen Entscheidungen aufbaut, reflektiert dagegen fast notgedrungen die Wertvorstellungen der weltweit agierenden und im Konfliktfall vor Gericht ziehenden Kaufmannschaft.”

Das englische Common Law weist einen utilitaristischen Charakter auf.Das kontinentaleuropäische Civil Law steht dagegen der Philosophie Kants näher. Dieser Unterschied zeigt sich auch in der gesellschaftlichen Funktion des jeweiligen Rechts:

“In der englischen Vorstellung geht es um die Absteckung eines äußeren Rahmens, innerhalb dessen Individuen frei von staatlicher Intervention agieren und handeln können (negativer Freiheitsbegriff). Nach deutschem oder französischem Verständnis dagegen ermöglicht erst das Recht die volle privatautonome Entfaltung des Individuums – es ist Freiheit im und durch Recht (positiver Freiheitsbegriff).”

Auch das Verhältnis zwischen Bürger und Staat ist anders: “Im kontinentaleuropäischen Denken hat sich eine klare Abgrenzung zwischen privatem und öffentlichem Recht herausgebildet.” Daher gibt es eine Verwaltungsgerichtsbarkeit und ordentliche Gerichte. In England dagegen gilt ein “einheitliches Recht, das alleine von den ordentlichen Gerichten angewandt und fortgebildet wird.” – Birke Häcker – 

in: “Europäische Rechtsidentität(en)”, Convoco Edition 2020.

Europa nimmt zu wenig wahr, dass das Vereinigte Königreich sich mindestens genauso stark zum Commonwealth hin orientiert und sich diesem zugehörig fühlt, wie zu Europa

Im Convoco! Podcast macht Birke Häcker grundlegende Missverständnisse zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich an zwei Beispielen deutlich:

“Auf Seiten des Vereinigten Königreichs versteht man nicht wirklich, weshalb die EU ihre Prinzipien, wie die Integrität des Binnenmarktes, so hoch hängt, anstatt sich nur unmittelbar auf das ökonomische Kalkül zu konzentrieren. So denkt man etwa, dass es bei einem Handelsbilanzdefizit des Vereinigten Königreichs gegenüber der EU von über 100 Milliarden Euro pro Jahr doch vorrangig im Interesse der EU liegen müsse, ein Freihandelsabkommen zu schließen und dafür eben auch regulatorische Abweichungen in Kauf zu nehmen. Ein zweites Beispiel: Europa nimmt zu wenig wahr, dass das Vereinigte Königreich sich mindestens genauso stark zum Commonwealth hin orientiert und sich diesem zugehörig fühlt, wie zu Europa. Man verkennt, wie das Selbstbild der Nation immer noch durch die koloniale Vergangenheit geprägt ist. In diesem Narrativ taucht Europa allenfalls als Randfigur auf.” – Birke Häcker –

in: “Was kommt nach Brexit?”, CONVOCO! Podcast #22, 16.08.2020. 

Birke Häcker

Brexit is an attempt to escape regulation

“We [the British] are an enterprise culture so we don’t like to put limits on enterprise. That’s why Brexit exists. Brexit is an attempt to escape regulation.” – David Chipperfield – 

in: “What does the New Century Require from Architecture?”, CONVOCO! Podcast #24, 25.09.2020

Ich bin der Überzeugung, dass sich ein substantieller Teil des Unmuts über die europäische Integration aus überkommenen Mythen speist

Sven Simon sieht den Brexit im Kontext eines gesamteuropäischen Problems:

“Der grundsätzlichen Zustimmung zur europäischen Idee steht eine latente Skepsis gegenüber den bestehenden Institutionen entgegen.” 

Sven Simon zufolge wird diese Skepsis von immer wiederkehrenden “Euromythen” über die “Regulationswut” Brüssels befeuert. Exemplarisch dafür ist die Kritik an der “Gurkenverordnung”:

“Wie bei vielen anderen Bürokratisierungsnarrativen auch, ändert sich die Bewertung dieser Verordnung, wenn man sich ihre Entstehungsgeschichte vor Augen führt. Es war nämlich keineswegs eine Idee der Europäischen Kommission, den Krümmungsgrad von Gurken festzulegen. […] Veranlassung des Regulierungsaktes war der explizite Wunsch des Handels. Solche Standard-Gurken könne man schneller verpacken und besser vergleichen, einfacher zählen und effizienter transportieren.
Diese zunächst banal klingende Verordnung ist Teil eines der erfolgreichsten Tätigkeitsfelder der Europäischen Union: die Schaffung gemeinsamer – oftmals technischer – Regeln für einen europäischen Binnenmarkt. Nur so kann Handel ressourceneffizient und letztlich auch umweltfreundlicher funktionieren. […] In den allermeisten Fällen haben die Regeln, die uns manchmal so absurd erscheinen, also mit notwendigen Anpassungsvorschriften zu tun, die erst die Voraussetzung für einen funktionierenden Binnenmarkt schaffen.”

Euromythen laufen Gefahr, durch ständige Wiederholungen irgendwann zu einer nicht mehr hinterfragten Wahrheit zu werden. Die vermeintlich irrsinnige Bürokratie wird früher oder später zum rhetorischen Selbstläufer, aus dem euroskeptische Parteien allzu einfach Kapital schlagen können.” – Sven Simon – 

in: “Was tun, Europa? Die EU zwischen alten Mythen und neuen Herausforderungen”, Convoco Edition 2020.

Das vereinigte Königreich ist auch ein Opfer der Schwäche der Union

Stefan Korioth

“Der Brexit begann mit berechtigter oder zumindest diskutabler britischer Kritik an der Funktionsweise der europäischen Institutionen, der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und deren weitreichenden Eingriffen in die Selbstbestimmung der Mitglieder. Dass diese Kritik weder auf europäischer noch nationaler Ebene angemessen in eine Reformdiskussion überführt werden konnte, sondern zu einem kaum mehr steuerbaren Desaster auf beiden Seiten führte, bedeutet den Verlust eines wichtigen Mitglieds und erweist einen Austritt unglücklicherweise als den einzig praktikablen Weg, sich europäischen Fehlentwicklungen und Zumutungen entziehen zu können.– Stefan Korioth –

in: “Wohin treibt Europa? Ein Plädoyer für mehr Vielfalt in der Europäischen Union”, Convoco Edition 2020.

Previous Focus 33/2020: Pressebeitrag von Dr. Corinne M. Flick

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